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Beitrag vom 16.03.2012
Goodnight Nobody. Ein Film von Jacqueline Zünd. Ab 15. März 2012 im Kino
Annika Hüttmann
Wer nicht schläft hat mehr Zeit. Scheinbar unendlich viel Zeit. Fluch oder Segen? Die vier ProtagonistInnen begegnen ihrer Schlaflosigkeit auf sehr unterschiedliche Weise - manche kämpfen mit ihr..
..., andere haben sich längst damit abgefunden.
Am meisten leidet wohl die junge Chinesin Lin Yao, eine Krankenschwester und Medizinstudentin. Vor lauter Lernen kann sie nicht schlafen und aufgrund dieser Schlaflosigkeit kann sie nicht mehr lernen. Schon als Kind hatte sie Schlafprobleme, weil ihre Eltern sich nachts stritten und sie sich verpflichtet fühlte, auf ihre Mutter aufzupassen. Gleichzeitig wollte sie immer Klassenbeste sein um ihre Eltern stolz zu machen und dadurch vielleicht deren Beziehung zu retten. Wenn sie ausdruckslos in die Kamera schaut und von dem ständigen Lärm um sie herum berichtet, merkt mensch, dass viel Druck auf ihr lastet. Sie scheint vollkommen verloren zu sein - sowohl in der Stadt Shanghai als auch in dem Teufelskreis aus Verpflichtungen und Erschöpfung, in dem sie sich befindet.
Mila Dean aus Arizona klagt vor allem über die Langeweile, der sie sich ständig stellen muss - sowohl tagsüber, da sie nicht arbeitet, als auch nachts, wenn sie wach und rastlos ist. Um ein wenig abzuschalten, beschallt sie sich mit Horrorfilmen, fährt ziellos im Auto durch die Gegend oder schreibt lange Listen. Von der Gesellschaft scheint sie fast völlig abgetrennt zu sein. Doch es ist weniger die Einsamkeit, die sie stört als die Auswirkungen, die die Schlaflosigkeit auf sie hat - nach drei bis vier durchwachten Nächten fällt es ihr sogar schwer, mit der Fernbedienung umzugehen.
Der Ukrainer Fedir Nesterchuk ist als "der Mann, der seit 20 Jahren nicht schläft" berühmt geworden. Auch wenn er sich beschwert, wie lästig er das öffentliche Interesse an seiner Person findet, scheint ein gewisser Stolz mitzuschwingen, wenn er die Länder aufzählt, aus denen bereits JournalistInnen zu ihm kamen. Seine Frau und er haben sich längst damit abgefunden, dass er nicht schläft - mensch sieht ihn ruhig bei einem Glas Vodka am Küchentisch auf den nächsten Tag warten.
Der Nachtwächter Jérémie Kafando aus Burkina Faso liebt die Nacht, wenn er allein an seinem Arbeitsplatz, einem Theater, ist. Er wird selbst zum Regisseur, seine MitarbeiterInnen sind streunende Katzen und er berichtet von Geistern, die sich nur nachts, das heißt nur ihm, zeigen. Die Nacht ist für Jérémie etwas Mythisches, sie gehört ihm. Er klagt dagegen über den Tag, in dem er sich nicht zurecht findet, da zu viel um ihn herum geschieht.
"Goodnight Nobody" funktioniert vor allem über Bilder, die leicht surreal und verschwommen anmuten. Die Zone zwischen Traumwelt und Realität wird perfekt eingefangen, mensch scheint die Welt direkt durch die Augen der ProtagonistInnen zu sehen und bekommt das Gefühl selbst schlaflos in einer halb magischen, halb bedrängenden Welt herum zu irren. Gefilmt wurde nachts, das schummrige Dunkel, die Filmmusik von Marcel Vaid und die Stimmen aus dem Off lassen die ZuschauerInnen tief in die scheinbar zeitlose Nacht eintauchen.
Abgesehen von einigen Fragmenten aus der Erfahrungswelt der gezeigten Schlaflosen erfährt mensch allerdings nichts über Insomnie. Es wird außerdem nicht die Geschichte der ProtagonistInnen erzählt, vielmehr liegt der Fokus darauf, wie sie ihr ständiges Wachsein wahrnehmen, wie sie die Welt um sich herum sehen, was sie denken, wenn sie nicht schlafen können. Der Dokumentarfilm der Schweizerin Jacqueline Zünd, die zeitweise selbst unter Schlafstörungen litt, gleicht einer hypnotischen Reise, die allerdings anfangs fesselnder ist als zum Ende hin, da der Film gänzlich ohne Spannung, Steigerung oder Wendungen auskommt.
AVIVA-Tipp: Dem mehrfach preisgekrönten, wunderschön gefilmten Dokumentarfilm gelingt es zu vermitteln, wie es sich anfühlt, nicht schlafen zu können. Trotz einiger Längen ist er eine beeindruckende Reise in ein nächtliches Zwischenreich voller Einsamkeit und Magie.
Zur Regisseurin und Autorin: Jacqueline Zünd wurde 1971 in Zürich geboren, studierte Journalismus in der Schweiz und Film in London. Seit 1998 ist sie Regisseurin und Drehbuchautorin für Dokumentar-, Spiel-, Experimental- und Werbefilme. "Goodnight Nobody" wurde unter anderem mit dem Grand Jury Prize des Sebastopol Documentary Film Festivals, als bester Dokumentarfilm auf dem Festival International de Film de Femmes und dem Dokumentarfilmpreis des Fünf-Seen-Filmfestivals ausgezeichnet.
Goodnight Nobody
CH/D 2010
Regie: Jacqueline Zünd
Drehbuch: Jacqueline Zünd
Produktion: mixtvision Mediengesellschaft
Musik: Marcel Vaid
Kamera: Nikolai von Graevenitz, Lorenz Merz
Mit: Mila Dean, Jérémie Kafando, Lin Yao, Fedir Nesterchuk
Länge: 77 Minuten
Kinostart: 15. März 2012
Weitere Informationen unter:
www.goodnightnobody.de
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